In den letzten Jahren hat sich zumindest in Halterkreisen zunehmend der Begriff „tiergerecht“ durchgesetzt und beginnt den Begriff „artgerecht“ abzulösen.1Vgl. H. Niemann (2007) , Artgerecht – der Art gerecht? WP-Magazin 7/2007

Meiner Ansicht nach ist das eine gefährliche Entwicklung.     

Für viele Halter sind „artgerecht“ und „tiergerecht“ austauschbare Begriffe.  Für manche ist „tiergerecht“ nichts anderes als alter Wein in neuen Schläuchen. Zweifellos werden die Begriffe von einigen auch synonym gebraucht. Letztlich aber drücken beide Begriffe doch unterschiedliches aus.   

Andere Halter bevorzugen den Begriff „tiergerecht“, weil bei ihnen ein Missverständnis des Artbegriffes vorliegt:
Alle Papageien werden als eine einzige Art angesehen (eventuell analog zu den Haushunden, die sich lediglich in unterschiedliche Rassen unterteilen).
Zugleich aber wird erkannt, dass Wellensittiche und Aras, Amazonen und Edelpapageien etc. höchst unterschiedliche Lebensweisen und daraus abgeleitet sehr unterschiedliche Ansprüche an die Haltung haben.2vgl. Ein Wellensittich ist ein Papagei

Unter dieser falschen Prämisse kann es natürlich keine arteigenen Bedürfnisse geben, die zu erfüllen sind. Und entsprechend ist eine der Art gerechte Haltung im Sinne einer Haltung, die allen Papageien(arten) gerecht wird, nicht möglich. Der Begriff „artgerecht“ vermag die vielen unterschiedlichen Anforderungen nicht abzudecken.

Papageien sind aber eine Vogelordnung, die sich in viele Gattungen aufgliedert (Amazonen, Edelpapageien, Aras, Wellensittiche u.v.a.m.), denen wiederum verschiedene Arten angehören (z.B. Blaustirn- und Königsamazonen , Rotrücken- und Gelbbrustara, bei monotypischen Gattungen wie den Wellensittich dagegen gibt es nur eine der Gattung zugehörige Art, eben der Wellensittich).

Auf dieser Stufe aber lassen sich meiner Ansicht nach durchaus arteigene, d.h. der Mehrzahl der Papageienindividuen einer Art gemeinsamen Ansprüche und Bedürfnisse beobachten.
Wenn man also von einem artgerechten Haltungssystem spricht, so meint dies immer artgerecht in Bezug auf eine bestimmte Papageienart – für eine andere Art kann dasselbe Haltungssystem durchaus nicht artgerecht sein.
Natürlich gibt es auch artübergreifende Ansprüche bei Papageien – diese sind aber so grundlegend, dass sie in letzter Konsequenz für jede Tierhaltung gelten: das sind etwa Ansprüche nach ausreichend Raum, frischer Luft, Licht, qualitativ gutem Futter etc..

Bei der Mehrzahl der Halter und Fachleute liegt die Ursache für die Ablösung des Begriffes „artgerecht“ durch den Begriff „tiergerecht“ in der Kritik an dem Begriff „artgerecht“ begründet:

Diese Kritik beginnt mit der Frage, ob sich der Begriff „artgerecht“ überhaupt definieren läßt und wenn ja, wie.
Dabei spielt auch der Umstand eine Rolle, dass verschiedene Interessengruppen den Begriff jeweils anders definieren.
Meist endet die Kritik dann mit der Auffassung, das artgerechte Haltung unmöglich ist, weil man die Natur nicht imitieren oder kopieren kann.

Artgerechte Haltung wird demnach als Kopie des Freilebens definiert und (miss-) verstanden.
Noch weitergehend postulieren dann manche, dass artgerechtes Leben nur in der Natur möglich ist.
Einer solchen Auffassung scheint oft die Vorstellung von der Natur als ein Paradies zu Grunde zu liegen. Außer Acht gelassen wird, dass es ebenso in der Natur ein Leiden der Tiere gibt: durch Rivalen, Räuber, Krankheit und Verletzungen, Verlust des Partners oder der Jungvögel, Naturkatastrophen wie Stürme oder Dürre, Nahrungs- und Wassermangel. Hinzu kommen noch die Eingriffe des Menschen in die Natur, die das Freileben „unartgerecht“ machen bis hin zum Aussterben einer Art.

Ebenfalls außer Acht gelassen wird bei der Auffassung, dass artgerechtes Leben nur in der  Natur möglich ist, dass die Verwendung von Begriffen wie artgemäß, artgerecht und auch tiergerecht immer nur dann einen Sinn hat, wenn es um die Haltung in Menschenobhut geht.
Gäbe es keine Haltung von Tieren hätten sich auch diese Begriffe nicht entwickelt, einfach deshalb, weil man sie nicht bräuchte.
Freileben ist nicht artgerecht, es ist natürlich.

Eine meiner Meinung andere Frage ist, ob das Freileben nicht die einzige Form des Lebens ist, bei der die Würde des Tieres gewahrt bleibt.3vgl. …dass eine Haltung niemals so gut sein kann wie das Leben in freier Natur

Ohne jeden Zweifel aber ist die Kenntnis des Freilebens eine wesentliche Voraussetzung für ein artgerechtes Haltungssystem. Das heißt aber nicht, dass ein Haltungssystem eine Kopie des Freilebens sein darf.4vgl. Lebensraums- und Verhaltensanreicherung

Der Begriff „tiergerecht“ scheint dagegen weniger Kritik ausgesetzt zu sein: tiergerecht wird meist nicht als Kopie des Freilebens verstanden und das, was eine tiergerechte Haltung ausmacht, lässt sich scheinbar leichter bestimmen und verwirklichen.

Entsprechend wird oft behauptet, dass eine artgerechte Haltung zwar nicht möglich ist, eine tiergerechte Haltung hingegen schon. (Kurzer Exkurs: Gerecht oder gemäß?5Beiden Begriffen gemeinsam ist der Terminus „Gerechtigkeit“, der auch die ethische Dimension der Begriffe offenbart. Für mich ist Gerechtigkeit ein Ideal, eine Idee, eine Wunschvorstellung, ein Modell, dass als Ziel anzustreben ist, bei dem aber offen bleiben muss, ob es je verwirklicht werden kann.
Der auch verwendete Begriff „artgemäß“ kommt ohne diese implizite Überhöhung aus, damit fehlt ihm aber auch diese Zielperspektive.
Der Begriff „tiergemäß“ ist mir übrigens bislang noch nicht untergekommen.
Die Definition der Termini artgerecht und tiergerecht sind letztlich ethischer Natur, wesentlich abhängig von den eigenen Wertvorstellungen.
Die Auswirkungen eines Haltungssystemes auf ein Tier, auf seinen Gesundheitszustand und sein Verhalten lassen sich dagegen meist mit wissenschaftlichen Methoden beschreiben, auch wenn oftmals der Halter sie nicht erkennt oder leugnet.
)

Warum?
Neben der Unkenntnis dessen, was artgerecht eigentlich ist, bzw. der Leugnung, dass artgerechte Haltung möglich ist, ist dies meiner Ansicht nach in einer Verschiebung der Perspektive begründet: eine Haltung unter tiergerechten Bedingungen zielt stets nur auf das einzelne Tier und seine individuellen Bedürfnisse.

Der Fokus der Betrachtung wird auf das Individuum gerichtet.  
0Zweifellos liegt hier auch der große Vorteil des Begriffes, denn er berücksichtigt damit die individuelle Biographie eines Papageien, seine Vorgeschichte, seine (Vor-)Erfahrungen, (Vor-)Erkrankungen etc..
So ist es ja durchaus möglich, dass für ein einzelnes Individuum andere Haltungsbedingungen optimal sind als für die Mehrzahl der anderen Individuen seiner Art. Ein einfaches Beispiel ist eine Erkrankung, die eine spezielle Ernährung notwendig macht, welche für die übrigen Papageien dieser Art unter Umständen nicht „artgerecht“ wäre.

Und ein weiterer Vorteil des Begriffes scheint es zu sein, dass die Bedürfnisse und Ansprüche eines Papageienindividuums und seine Anforderungen an die Haltung sich leichter bestimmen lassen als die Bedürfnisse, Ansprüche und Anforderungen einer großen Zahl von Individuen, einer ganzen Art.
Maßstab der Haltung sind nicht eventuell diffuse, nicht näher definierte Ansprüche und Bedürfnisse einer ganzen Art, sondern die konkreten, genau bestimmbaren Ansprüche und Bedürfnisse eines einzelnen Papageien.

Das klingt zunächst nicht schlecht.
Aber gerade in diesem Perspektivenwechsel liegt für mich auch die Gefahr:
Zu leicht kann der Begriff „tiergerecht“ als einziges Kriterium für ein Haltungssystem zu einer Rechtfertigungsstrategie werden.
So, wie ich meinen Jacko halte ist es genau richtig für ihn. (also tiergerecht)
Mein Jacko interessiert sich ja nicht für Artgenossen und er mag auch keinen Freiflug. Wenn man seinen Käfig öffnet kommt er ja nicht mal heraus …
Viele Halter wissen, dass ihre Haltung nicht artgerecht ist, und glauben, dass das auch nicht möglich ist.
Aber ihrem Papageien geht es ja (scheinbar?) gut. Und da beruhigt es das Gewissen, dass die Haltung damit ja tiergerecht sein muss.

Ich möchte damit keinem Halter irgendwelche böswilligen Absichten unterstellen.
Ich habe selbst – wie eingangs beschrieben – in meiner „Vogelhalterkarriere“ meine Papageien in den unterschiedlichsten Haltungssystemen gepflegt und war anfangs immer überzeugt, dass das jeweilige Haltungssystem für meine Vögel das „richtige“ war – auch zu dem Zeitpunkt, als ich Einzelhaltung in viel zu kleinen Käfigen betrieb. 
Als Halter fehlen einem oft die Informationen, Vergleichsmöglichkeiten und der Maßstab, an dem sich die Qualität des eigenen Haltungssystems messen lässt.
Man weiß nicht, wie sich Papageien unter anderen Haltungsbedingungen verhalten und glaubt dann leicht, seine Haltungsbedingungen seien für die eigenen Vögel das beste, seien tiergerecht.

Damit aber verstellt der Begriff mit seiner Fokussierung auf das Individuum den Blick auf eine mögliche Verbesserung des eigenen Haltungssystems.
Wir können Zustand und Verhalten eines Papageien nicht angemessen beurteilen, wenn wir nichts über Lebensweise, Ansprüche und Bedürfnisse der Art, dem der Papagei angehört, wissen oder diese als unerheblich außer Acht lassen.
Und viele individuellen Eigenheiten eines Papageien, die veränderte (tiergerechte) Haltungsanforderungen notwendig machen, sind oft erst die Folge der vorangegangenen nicht ausreichend artgerechten Haltungsbedingungen. Deshalb dürfen allgemeine, der gesamten Art, zumindest der Mehrzahl der Individuen dieser Art gemeinsame Ansprüche und Bedürfnisse nicht unberücksichtigt bleiben – ebenso aber auch nicht die individuellen Besonderheiten des einzelnen Papageien.

So verstanden widersprechen sich „artgerecht“ und „tiergerecht“ nicht, sondern ergänzen einander.

Ohne die Vorstellung von einer „artgerechten Haltung“ bei einer ausschließlichen Fokussierung auf das einzelne Tier ist es unmöglich, Regeln oder Forderungen für eine „richtige“ Haltung von Tieren aufzustellen oder gar Vorschriften zu erlassen wie z.B. die Mindestanforderungen.
Außer, der Begriff „tiergerecht“ ist gar nicht auf das Individuum fokussiert – was unterscheidet ihn aber dann noch von dem Begriff „artgerecht“?

Einzelnachweise / Anmerkungen
  • 1
    Vgl. H. Niemann (2007) , Artgerecht – der Art gerecht? WP-Magazin 7/2007
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
    Beiden Begriffen gemeinsam ist der Terminus „Gerechtigkeit“, der auch die ethische Dimension der Begriffe offenbart. Für mich ist Gerechtigkeit ein Ideal, eine Idee, eine Wunschvorstellung, ein Modell, dass als Ziel anzustreben ist, bei dem aber offen bleiben muss, ob es je verwirklicht werden kann.
    Der auch verwendete Begriff „artgemäß“ kommt ohne diese implizite Überhöhung aus, damit fehlt ihm aber auch diese Zielperspektive.
    Der Begriff „tiergemäß“ ist mir übrigens bislang noch nicht untergekommen.
    Die Definition der Termini artgerecht und tiergerecht sind letztlich ethischer Natur, wesentlich abhängig von den eigenen Wertvorstellungen.
    Die Auswirkungen eines Haltungssystemes auf ein Tier, auf seinen Gesundheitszustand und sein Verhalten lassen sich dagegen meist mit wissenschaftlichen Methoden beschreiben, auch wenn oftmals der Halter sie nicht erkennt oder leugnet.

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